Montag, 8. Juli 2019

Wenn der Kopf sagt LOS! aber der Körper nicht kann

Ich habe hier wieder so ein Thema, wo ich nicht weiss, wie man das am besten anfängt oder wie es angefangen hat... Hätte nie gedacht, dass ich mal in so eine Situation komme, weil ich die einfach nicht für real gehalten habe. Ich glaube, es war so:

Du hast ganz dünne Haare bekommen, sagte meine Mama. Ich schaue sie verzweifelt an. Das weiss ich, das habe ich auch schon gemerkt, aber ich weiss nicht mehr, was ich dagegen tun soll. Ich habe diverse Dinge versucht, aber es wird nicht besser. Ich glaube, das liegt an der Pille, sage ich, das steht als Nebenwirkung drin.

Ich komme nach Hause, lege mich aufs Sofa, döse ein. Um 22 Uhr wache ich wieder auf und gehe ins Bett. Das ist bestimmt die Frühjahrsmüdigkeit, sage ich zu meiner Kollegin. Ja, meint sie, das hätte sie auch. Immer mal wieder. Bei mir ist es nicht immer mal wieder. Es geht seit Wochen so und ich kriege keinen Dreh mehr rein. Vll liegt es daran, dass ich nachts nicht vernünftig schlafe, versuche ich mich zu beruhigen, aber auch eine Umstellung da führt zu keiner Besserung.

Das ist jetzt fast 1,5 Jahre her. Vor 1,5 Jahren hätte ich nicht vor diesem PC sitzen können. Ich hätte mich ins Bett verzogen und geschlafen. Müdigkeit war mein ständiger Begleiter. Das wurde immer mehr und mehr zur Belastung. Ich hab mir die Abende mit Terminen mit Freunden vollgepackt um nicht nur noch zu schlafen. Dachte immer noch Nebenwirkung der Pille, du musst dich nur dran gewöhnen, andere Frauen schaffen das auch. Du stellst dich einfach an. Mehr und mehr hatte ich alle auf dem Beipackzettel genannten Nebenwirkungen und zunehmend immer schlechtere Laune.


Seit November geht es Mama nicht gut, sie terrorisiert die komplette Familie damit. Ich denke, ich bin einfach fertig von der ganzen Situation. Stress macht krank, ich bin dauerhaft krank. Seit Monaten erkältet, ich bekomme es gar nicht mehr weg. Alle Hausmittel und Medikamente versagen oder lindern die Beschwerden nur paar Stunden. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es ist durch eine freie Nase zu atmen. Vll schlafe ich deshalb auch so schlecht.

Mama schafft es nur bis Februar. Am 07. kommt in der Mittagspause die Nachricht, es ist vorbei. Es fühlt sich kurz wie Befreiung an, ich weiss, es geht ihr jetzt besser. Auch bei mir ist kurz Besserung und ich funktioniere, organisiere, räume, mache und tue. Ich lerne jemanden kennen, blöde Umstände aber ich rede mir ein, das könnte passen, alle reden mir ein, das könnte passen. Es passt nicht, nie und zu keiner Zeit, aber es hat schöne Momente, die mich glauben lassen, dass nach jedem Tief ein Hoch kommt. Das Hoch bleibt aus, stattdessen geht es noch tiefer runter. Als er mir sagt, dass auch er gemerkt hat, dass es nicht passt, geht für mich eine Welt unter. Und nun halten wir uns das Ganze mal nüchtern vor Augen: Es geht eine Welt unter, obwohl ich den nicht mal annähernd für immer wollte. Da waren keine echten Gefühle, vll ein paar nette Momente. Das war alles, aber ich heule als hätte ich meine einzige große Liebe verloren. Ich heule auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Weg von der Arbeit, beim Essen, auf dem Sofa, im Bett. Ich kann mich gar nicht mehr beruhigen. Meine beste Freundin hat es gerade nicht leicht mit mir und ich bekomme immer mehr Angst vor mir selbst.

Sonst waren das paar Tage, wo ich geknickt war. Dann war alles wieder gut. Warum wirft mich ein unbedeutendes nein nun so aus der Bahn? ich beginne mich von allem zu trennen was mich überfordert. Menschen, Dinge, sogar meine beiden Haustiere fallen dem zum Opfer, weil es mich überfordert für zwei Vögel den Futter- und Trinknapf regelmäßig zu füllen. Ich verbringe mein Leben eigentlich nur noch auf dem Sofa und wenn ich nicht heule, dann finde ich einen Grund zum heulen. Ich fange an Psychologen zu googlen, ich habe Angst vor Depressionen. Ich habe es bei Mama gesehen, ich will nicht zur Belastung für alle anderen werden, aber ich bekomme die Nummer nicht ins Handy getippt. Kein Anruf, also auch kein Termin.

Das ist das schlimmste. Du weisst, dass du etwas tun musst, aber du kannst nicht. Und ich rede hier nicht von einem kleinen Schweinehund oder akuter Unlust. Du bist zum Beispiel nicht in der Lage aufzustehen! Der Kopf sagt, du musst, der Körper sagt, ich kann nicht. Du schaust minutenlang auf deine Uhr, du siehst wie die Zeit vergeht, du schließt die Augen, döst wieder ne halbe Stunde, machst die Augen auf. Diesmal stehe ich auf, denkst du, aber es passiert einfach nichts. Ich habe in dieser Zeit Nächte auf dem Sofa geschlafen, weil der Weg ins Bett zu weit, zu beschwerlich oder was weiss ich war. Was ist nur passiert? Ich denke an die Zeit zurück, wo ich nach jedem Feierabend unterwegs war, Freunde treffen, irgendwas suchen, gucken, machen. Ich habe da keine Kraft mehr zu. Ich bin müde. Diesmal schiebe ich es aufs Alter.

Der Arzt ruft an, irgendwelche Werte seien bei dem leztzten Test nicht okay gewesen, ich muss in einem halben Jahr noch einmal wieder kommen. Das halbe Jahr ist eine Katastrophe für mich. Oma Krebs und tot, Mama Krebs und tot. Jetzt bist du dran, denke ich. Als der Termin kommt sitze ich zitternd da und erzähle alles, was mir in diesem Moment einfällt, was mir komisch vorkommt seit Langem. Ich kann nicht schlafen zu gewöhnlichen Schlafenszeiten, vergesse alles, was man mir erzählt, bin aber dauerhaft müde, schlechte Laune, katastrophenartige Anwandlungen, Haare fallen aus, Fingernägel brechen und ich kann einfach nicht mehr aufstehen... Alles Nebenwirkungen, die bei der Pille auch stehen. Ich will die nicht mehr. Ich brauch die nicht mal, aber meine Angst, es könnte was passieren, ist zu groß. Doppelt hält eben besser. Safety first und so. Man hat nur dieses eine Leben.

Es werden diverse Tests gemacht. Nach ein paar Tagen ruft eine mir unbekannte Nummer an, aber ich kann anhand der Vorwahl erkennen, wer das sein muss. Ich schlucke, nehme das Handy und verlasse das Büro. Holen Sie sich nach der Arbeit ein paar Tabletten raus, das ist nichts schlimmes... Ich kann mich die ganze Zeit im Büro nicht mehr konzentrieren, kann ich seit einer ganzen Weile schon nicht mehr, auch eine Nebenwirkung, wie ich später erfahre. Schon wieder krank denke ich, warum trifft es immer dich?

Zwei Wochen vergehen mit Tabletten und ich habe das erste mal wieder das Gefühl, dass alles gut ist, ich heul nicht mehr, es gibt keinen Grund dazu. Alles komischen Dinge, die ich gemacht habe, da lache ich nun drüber, weil ich die selbst nicht mehr verstehe. Eine gute Sache hatte das ganze dennoch. Ich hab mein Leben aufgeräumt. Nicht nur ein bisschen, sondern von Grund auf. Ich denke, ich habe auf einmal verstanden, worum es geht, auch wenn ich das beschwerlich lernen musste. Seit Montag keine Pille mehr, keine zusätzlichen Tabletten um die Nebenwirkungen zu stoppen. Kein Wenn oder aber... Mein Körper brauchte fast 2 Jahre zurück in den ursprünglichen Zustand aber ich bin dennoch stolz das geschafft zu haben.

Life is not measured by the breaths you take but by the moments that take your breath away.